Was ist Lernen?

Eine Andacht von Michael Jacobs, OStD i.K.

Ein Impuls für die Kuratoriumssitzung der EKiR-Schulstiftung im Oktober 2017

Michael Jakobs

In der Kuratoriumssitzung der Schulstiftung hat Michael Jakobs eine inspirierende Andacht gehalten. Die möchten wir Ihnen nicht vorenthalten:

 

Lamed oder: Was ist Lernen?

Sie sehen einen hebräischen Buchstaben – Lamed – (auf dieser Seite unter dem Text) verbunden mit einer elementaren Frage: Was ist Lernen? Die Frage ist nicht neu, und der Zusammenhang zum hebräischen Buchstaben erschließt sich nicht sofort, und so möchte ich Sie einladen, sich zu Beginn der heutigen Sitzung mit mir auf eine kleine Spurensuche in fremdes Terrain zu begeben. Denn für die meisten von Ihnen ist das Hebräische ebenso fremd wie für mich. Vielleicht kann ja der fremde Zugang unserem Verständnis von Lernen eine interessante Facette hinzufügen.

Angeregt zu dieser Spurensuche hat mich Jürgen Ebach, emeritierter Professor für Altes Testament in Bochum, der vor einigen Jahren ein sehr schönes Buch vorgelegt hat, auf das ich Sie gerne hinweisen möchte: „SchriftStücke. Biblische Miniaturen“. Es ist schon äußerlich ein wirklich schönes Buch, das sich auch gut zum Verschenken eignet: fester, leicht gerillter Einband, kräftige rote Farbe, außen wie (dezent) innen, leicht getöntes Papier, feiner Druck, Lesebändchen – ein Buch, das man einfach gern in die Hand nimmt. Es ist aber auch innerlich und inhaltlich ein schönes und vielseitiges Buch: Es versammelt kurze Texte und Gegentexte, Geschichten, autobiographische Notizen, Gelesenes und by the way Aufgelesenes, Fundstücke, Kommentare, Parodien, Aphorismen, die sich alle direkt oder indirekt auf biblische Worte, Texte und Motive beziehen.

Ebach nennt seine Texte „Passagen“, weil sie zur Bibel hinüber- und von der Bibel zum heutigen Leser herüberführen. Dem Autor gefällt die Vorstellung vom Leser als „Passagier“, der sich einer Fähre bedient, um von den alten Texten zur Gegenwart und von der Gegenwart zu den alten Texten hinüber und herüber zu kommen. Und deshalb ist eines der Stücke auch explizit solcher Hermenautik gewidmet.

Die SchriftStücke wollen keine Lehre vermitteln, sondern Aufmerksamkeit wecken – für die Bibel als Zeugnis des gelebten Lebens vieler Generationen. Es geht Ebach um die Bibel als Weltliteratur, als Bildungsgut – gleichwertig neben den großen Texten der klassischen Antike. Und manchmal erschließt sich ein Bildungsgehalt in einem einzigen Buchstaben.

Heute also: Lamed oder: Was ist Lernen? Um den Zusammenhang zu verstehen, muss man etwas über die hebräische Schrift wissen, wie sie in den gedruckten Bibeln und ebenso in gegenwärtigen israelischen Büchern oder Zeitungen verwendet wird: Man muss wissen, dass sie „Quadratschrift“ heißt und zunächst allein aus Konsonanten besteht – ein bestimmtes System von Punkten und Strichen zur Anzeige der Vokale wurde erst später hinzugefügt. Quadratschrift heißt sie deshalb, weil jedes Konsonantenzeichen in ein quadratisches Kästchen eingezeichnet werden könnte und dabei entweder das ganze, ein halbes oder ein viertel Quadrat füllte.

Hinzu kommt, dass jeder Buchstabe mit einem Wort verbunden ist: So ist der Buchstabe Kaf zugleich das Wort für die Handfläche; es sieht aus wie eine hohle Hand und lehnt sich an drei Seiten des Quadrats an. Der Buchstabe Lamed hat zu tun mit dem Verb lamad = lernen. Mit diesem Buchstaben Lamed, dem Buchstaben des Lernens also, hat es etwas Besonderes auf sich. Er ist nämlich der einzige Buchstabe, der beim Schreiben ein wenig nach oben aus dem gedachten Quadrat herausgeht – man sieht es auf der Karte.

Lernen heißt also, ein wenig über die vorgegebenen Kästchen hinaus zu gehen. Aber um über die vorgegebenen Kästchen hinauszugehen und erst recht um zu merken, dass man über ein vorgegebenes Kästchen hinausgekommen ist, bedarf es der vorgegebenen Kästchen. Das gilt auch für das Schreiben. Jeder Mensch entwickelt im buchstäblichen und auch im übertragenen Sinne im Laufe seines Lebens eine eigene Handschrift. Aber um sie zu entwickeln, bedarf es zunächst der Einübung in so etwas, das man Grund- und Ausgangsschrift nennt. Und dann muss eine Erstklässlerin auch schon einmal eine ganze Zeile voller „a“s oder „m“s schreiben, obwohl es gar kein Wort gibt, in dem zwanzig Mal ein a oder ein m hintereinander vorkommen.

Lernen heißt, im vorgegebenen Rahmen zu üben und im eigenen Verstehen über den vorgegebenen Rahmen hinaus zu gehen. So kommen im biblischen, im rabbinischen und im weiteren jüdischen Lernen das Memorieren und das Sich-Anverwandeln des Stoffes zusammen; es geht um Genauigkeit und Phantasie und damit um größte Treue und freieste Auslegung. Und dieses Lernen umfasst im jüdischen Verständnis ein ganzes Leben.

Auf die Frage, warum er im Alter von 90 Jahren noch immer jeden Tag übe, antwortete der weltberühmte Cellist Pablo Casals, er bemerke, dass er Fortschritte mache.

Liebe Kuratoriumsmitglieder, im vorgegebenen Rahmen beharrlich zu üben und im eigenen Verstehen über den vorgegebenen Rahmen hinauszukommen – das könnte auch für unsere Arbeit im Kuratorium eine gewisse Wegweisung sein. Und wenn wir dann noch nach Jahren merken, dass wir Fortschritte machen, dann haben wir viel gewonnen!

Lamed ist der zwölfte Buchstabe im hebräischen Alphabet

Comments are closed.